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Passgenaue Therapie für Menschen mit Diabetes

Passgenaue Therapie für Menschen mit Diabetes

AID, Algorithmen, KI… One size fits all – eine Behandlung für alle – das ist schon lange nicht mehr Standard. Dank der wachsenden Möglichkeiten in der Diabetes-Technologie lässt sich die Therapie immer gezielter an individuelle Bedürfnisse anpassen.

Wenn es nach Dr. Hansjörg Mühlen ginge, wären wir – was die personalisierte Medizin betrifft – bereits viel weiter. „Dabei ist es ja nicht so, als hätten wir bisher alle Patientinnen und Patienten gleichbehandelt“, sagt Dr. Mühlen. „Wer zu uns in die Sprechstunde kommt, erhielt und erhält eine individuell zugeschnittene Beratung und eine Therapie, die auf die persönlichen Bedürfnisse und Lebensumstände zugeschnitten ist.“ Aber je mehr Optionen zur Verfügung stünden, desto mehr Auswahl habe man natürlich. Und desto genauer könne man – gemeinsam mit dem Patienten – schauen, was am besten in den jeweiligen Alltag passt.

Personalisiert und automatisiert

In der digitalisierten Medizin habe die Personalisierung aber noch eine andere Bedeutung, sagt Mühlen: Es bedeute auch, dass sich aus der Masse der Daten, sofern diese denn zur Verfügung stünden, über entsprechende Analysen jene Lösungen herausfinden ließen, die für den jeweiligen Menschen mit Diabetes am besten seien. Und: die darüber hinaus automatisiert erfolgen. „Das, was wir bisher an Personalisierung für Menschen mit Diabetes zur Verfügung stellen konnten, beruhte eigentlich immer auf der ärztlichen Erfahrung. Wir Ärzte lesen Studien, besuchen Fortbildungen, unterhalten uns mit Kollegen; aber die Basis war immer auch ein bisschen von der persönlichen Erfahrung der Diabetologinnen und Diabetologen geprägt.“

Mit der Digitalisierung biete sich nun die Möglichkeit, die Beratung von Menschen mit Diabetes auf ein wesentlich breiteres und fundierteres Fundament zu stellen… Wenn – und das ist Hansjörg Mühlen wichtig zu betonen – wenn wir wirklich mal Zugriff auf die Daten der Menschen mit ihren unterschiedlichen Behandlungen und Auswertungen hätten. „Darin sehe ich eine Riesen-Chance.“ Wieso wenn? „Das Problem in Deutschland ist, dass unser Gesundheitswesen von vielen Möglichkeiten, die Digitalisierung mit sich bringt, weit entfernt ist“, sagt der Diabetologe aus Duisburg. E

in Gesundheitssystem, das digital werden will, müsse zentralisiert sein. Das ist in Deutschland schwierig. Der Föderalismus, die vielen unterschiedlichen Krankenkassen, die beiden Krankenversicherungssysteme, die an vielen Stellen fehlende Digitalisierung. Man sehe ja, wie schwierig es sei, eine elektronische Patientenakte oder das E-Rezept in Deutschland zu etablieren.

Ein Meilenstein: AID- Systeme

„Keine Frage: Die AID-Systeme sind ein Meilenstein in der Entwicklung. Sie reduzieren den Stress bei Menschen mit Diabetes enorm. Ich habe viele Patienten, die ihre Therapie mit einem AID-System um Lichtjahre verbessert haben. Ein Segen für die Menschen mit Diabetes und für uns Ärzte übrigens auch“, sagt Hansjörg Mühlen, der überzeugt ist, dass „wir ohne die DIY-Gemeinde längst nicht soweit wären. Die haben einfach Fakten geschaffen.“ Er habe einige Patienten in seiner Praxis, die ein DIY-System nutzten. Patienten, die allesamt gut eingestellt seien. „Wir können in der Sprechstunde über ganz andere Dinge sprechen, als über die Anpassung von Basalraten.“ In diesen Gesprächen gehe es um das Leben, darum, wie man ein Therapie-System sinnvoll in seinen Alltag integriert und was vielleicht noch verbessert werden könne.

Inzwischen, so der Diabetologe, würden aber immer mehr Patienten von einem DIY-System auf ein AID-System umsteigen. „Ein Punkt für die zugelassenen Systeme!“ Und auch hier müsse man individuell schauen und beurteilen:
Ein 25-Jähriger, der mit einem AID-System einen HbA1c von 8 erreicht, ist – so der Tenor– schlecht eingestellt. „Das mag sein, aber wenn dieser Patient vorher 12 Jahre einen HbA1c von 12 hatte, dann haben wir hier doch eine enorme Verbesserung“, gibt Dr. Mühlen zu bedenken. Es handele sich eben manchmal um langwierige Prozesse, die sich teilweise über Jahre hinzögen. „Unser Job in der Diabetologie ist und bleibt es, eine Verbindung und Vertrauensbasis zum Patienten aufzubauen.

Auch das ist personalisierte Medizin“, sagt Hansjörg Mühlen. Dafür braucht es engagierte Diabetologen und Diabetologinnen. „Ich habe Patienten, die muss ich dreimal jährlich umstellen, weil der Insulinbedarf sich je nach Jahreszeit stark verändert. Und zwar unabhängig davon, ob sie ansonsten einen eher gleichmäßig strukturierten Alltag haben oder nicht.“ Und dann gebe es jene Patientinnen und Patienten, die eine Insulinpumpe verwenden und im Schichtdienst arbeiten. Hier sei ein Insulinpumpen-System hilfreich, in dem man ausreichend unterschiedliche Basalratenprofile hinterlegen könne.

Nicht alle Algorithmen sind für verschiedene Lebenssituationen gleich gut geeignet. „Es gibt selbstlernende Algorithmen, die die unterschiedlichen Belastungen mancher Menschen, die im Schichtdienst arbeiten, häufig unterwegs sind oder mit Zeitverschiebung klarkommen müssten, nicht optimal bewältigen würden, bei anderen in ähnlicher Situation aber gute Ergebnisse liefern.“ Warum? „Der Algorithmus vergleicht ein erwartetes Ergebnis mit einem realen Ergebnis und verändert entsprechend die Rahmenparameter. Aber was ich nicht weiß: Werden für diese Berechnungen die letzten drei oder die letzten sechs Tage zugrunde gelegt? Wie schnell erfolgt die Anpassung? Ein selbstlernender Algorithmus ist aus meiner Sicht nicht gleichzusetzen mit Künstlicher Intelligenz“, sagt Hansjörg Mühlen.

Der Algorithmus muss besser werden

Passgenaue Therapie für Menschen mit Diabetes

Ein anderer Aspekt, den der Algorithmus nicht berücksichtigen könne, sagt Hansjörg Mühlen, ist die Ausnahmesituation. Es gibt Anwendende, die zwischendurch gerne mal die Möglichkeit hätten, bestimmte Mahlzeiten oder Situationen aus dem Selbstlernprozess des Algorithmus herauszuhalten. Eben weil es sich um Situationen handele, die einmalig oder ungewöhnlich sind. Es müsse für Menschen, die sich einfach besser fühlen, wenn sie mehr Kontrolle behalten, mehr Möglichkeiten geben, einzugreifen. Vielleicht könnte man so noch mehr Leute von der Nutzung eines AID-Systems überzeugen. Inwieweit ist diese Patientin oder dieser Patient dazu bereit, Kontrolle abzugeben? Auch das ist eine Frage, die in der maßgeschneiderten Medizin von Bedeutung ist. Wer sich seit vielen Jahren intensiv um seinen Diabetes kümmert, kommt vielleicht besser mit einem System zurecht, das ihm selbst noch Möglichkeiten lässt, einzugreifen.

Den Diabetes gibt es nicht

Wenn wir von Diabetes sprechen, dann sprechen wir eigentlich von einer Diagnose mit 1 000 Gesichtern. Es gibt nicht nur den Unterschied zwischen Typ-1- und Typ- 2-Diabetes. Jeder Mensch mit einer dieser beiden Diagnosen ist anders.

Wir brauchen mehr Differenzierung

„Ich glaube, dass wir mit den Algorithmen noch ganz am Anfang stehen. Um die Algorithmen zu verbessern“, sagt Mühlen, „brauchen wir vor allem noch mehr Daten.“ Er habe selbst eine App mitentwickelt, die sich derzeit zur Prüfung beim BfArM befindet. „mebix“ soll eine DiGA werden. Mit dieser App können auch Daten von Gesundheits- Trackern herangezogen werden – derzeit von Apple Health. „Darüber haben wir dann auch Daten zu Herzfrequenz, Blutdruck, Gewichtsveränderungen usw. Situationsadaptierte Informationen, die alle dem Algorithmus für seine Berechnungen zur Verfügung stehen.“ Mehr noch, diese Daten können ins Webportal der Praxen gespiegelt werden.

„Der nächste Schritt wäre dann, dass eine KI in unserer Praxis die Daten aller teilnehmenden Patientinnen und Patienten auswertet. Denn natürlich sehe ich nicht jeden Morgen die Daten von 1 000 Patienten durch, aber ich kann sogenannte „Wachhunde“ hinterlegen, die mich darauf hinweisen, bei welchem Patienten gerade etwas in die falsche Richtung läuft. Ich kann sehen, wenn sich bei einem Patienten das Gewicht stark verändert, bei jemandem seit Tagen keine Werte mehr auftauchen oder die Werte ständig zu hoch oder zu niedrig sind.

Die Anwendenden haben über die App Zugriff auf vielfältige Inhalte zu Ernährung, Bewegung – inklusive verschiedener Übungen. Es gibt ein Ketose-Schema und gegebenenfalls eine Erinnerungsfunktion, bei hohen Zuckerwerten auch mal Ketone zu messen. Es ist vieles möglich und ich glaube das wir in der nächsten Generation von Therapie-Systemen viel mehr Daten integrieren können werden.“ Was bei diesen Systemen immer wichtiger werde, seien gute Schulungen. „Der maximale Effekt eines technologischen Produktes wird nur erreicht, wenn die Anwendenden auch richtig geschult sind, womit wir bei einem weiteren Thema sind, das mit guter personalisierter Medizin eng verknüpft ist: Der Mensch, der ein Therapiesystem anwendet, muss verstehen, warum er das tut.“

Man müsse hierzu nicht im Detail verstehen, wie ein Algorithmus genau funktioniert. Aber man müsse wissen, wie man mit einem vom Algorithmus gesteuerten System umgeht und warum. Man brauche eine Art „Führerschein“, um das Potenzial eines AID-Systems für sich persönlich voll auszuschöpfen. Dafür brauche es gute und individuelle Schulung.

Wer braucht welche Unterstützung?

Passgenaue Therapie für Menschen mit Diabetes

„Ich habe Patientinnen und Patienten, die sehe ich seit fünf Jahren mit einem HbA1c von 6,2. Alle drei Monate kommen sie in meine Praxis und fragen mich: ‚Warum muss ich eigentlich jedes Quartal hier auf der Matte stehen?‘ Weil ich als Arzt eben nur behandeln und verordnen darf, wenn wir die Chipkarte einlesen, die Füße angucken und den HbA1c messen. Wenn es sich aber um einen Patienten handelt, der regelmäßig zur Podologie geht und mir seine CGM-Daten übermittelt, dann stellt sich die Frage, warum der HbA1c überhaupt gemessen werden muss und warum die Leute teilweise bis zu 200 Kilometer fahren müssen.

Ich sehe doch anhand der CGM-Daten, ob die Therapie aus dem Ruder läuft. Könnte man die Chipkarte nicht digital einlesen und sich über Video sehen?“, fragt sich Hansjörg Mühlen. Das bedeute nicht, dass er manche Patienten gar nicht mehr sehen wolle, aber eben zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Indikation und dann, wenn der Bedarf da sei. „Wenn wir in die Zukunft schauen, dann ist absehbar, dass es einen Ärztemangel geben wird, und dann ist es umso wichtiger, dass die Menschen, die wirklich einen Arzt brauchen, auch einen Termin erhalten.“ Und zwar nicht nur zum Einlesen der Gesundheitskarte. Auch das ist aus der Sicht von Dr. Hansjörg Mühlen personalisierte Medizin.

Die Schritte sind klein, aber die Richtung stimmt

Hansjörg Mühlen gibt zu, zuweilen etwas ungeduldig zu werden, weil es ihm nicht schnell genug geht. Und weil er weiß, was alles möglich wäre. „Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Es geht mit kleinen Schritten voran, aber es geht in die richtige Richtung.“

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